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Textauszüge aus dem Buch "Leben ist Sterben - Wie wir uns auf das Sterben, den Tod und darüber hinaus vorbereiten können"
Du wirst sterben

Als Erstes musst du zu der Einsicht gelangen, dass du sterben wirst – auch wenn du keine Ahnung hast wann.

Menschen sterben jeden Tag. Wir stehen alle irgendwann in unserem Leben am Sterbebett eines geliebten Menschen. Doch wie viele von uns glauben wirklich, dass auch wir sterben werden?

Häufig weckt die Nachricht, dass wir sterben werden, in uns das Gefühl, betrogen und ungerecht behandelt worden zu sein. Unterbewusst denkst du: „Warum passiert das mir? Und warum jetzt? Ich bin doch noch jung! Wenn ich 99 Jahre alt wäre, wäre es offensichtlich Zeit für mich zu sterben. Aber warum jetzt? Mein Leben hat kaum begonnen!“

Deine erste Vorbereitung auf den Tod besteht also darin, dich davon zu überzeugen, dass du sterben wirst – auch wenn du nicht im Geringsten weißt, wann. Deine zweite Vorbereitung ist, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass du nicht der einzige Mensch bist, der sich jemals dem Tod hat stellen müssen. Wir alle müssen sterben. Deshalb ist auch nichts Unfaires daran. 


Lebe ein erfülltes Leben

Versuche, dein Leben zu genießen. Reise nach Machu Picchu oder Madagaskar. Reise an alle Orte, von denen du schon immer geträumt hast. Schätze realistisch ein, was du kaufen und besitzen solltest. Frage dich: „Brauche ich wirklich noch einen Ferrari? Brauche ich so viel Geld auf der Bank?“ Erinnere dich, dass es oft mehr Stress als Freude bereitet, sich um teure Spielzeuge und Bankkonten zu kümmern – es sei denn natürlich, du bist ein großer Menschenfreund und planst, deine reichlich vorhandenen liquiden Mittel für wohltätige Zwecke zu verwenden. Fang an, alles und jeden um dich herum so zu betrachten und so mit ihnen umzugehen, als würdest du sie zum letzten Mal sehen. Bewältige und kläre alle offenen Probleme oder Streitigkeiten in deiner Familie und deinem Freundeskreis; jetzt ist der Zeitpunkt, Missverständnisse auszuräumen und schwelende Unstimmigkeiten aufzulösen.

Die beste Vorbereitung auf den Tod ist vor allem, ein erfülltes Leben zu leben. Genieße den köstlichsten Tee der Welt, der richtig zubereitet und nicht hastig aus Plastikbechern getrunken wird. Trage die Kleidung, die du schon immer tragen wolltest. Lies die Bücher, die du schon immer lesen wolltest. Tu alles, was du schon immer tun wolltest, egal wie unverfroren oder anstößig es auch sein mag. Und tu es jetzt, weil du vielleicht nie eine zweite Chance bekommst.


Kaufe bewusst ein und mache ein Testament

Wir Menschen lieben leibliche Genüsse und jeder von uns möchte glücklich sein. Genau deshalb strengen wir uns so an, immer mehr Geld und materielle Güter anzuhäufen. Ist es nicht ironisch, dass uns alles, was wir für unseren Komfort und unsere Behaglichkeit tun, am Ende Stress und Herzschmerz bereitet? 

Wenn du Geld und Eigentum besitzt, lege fest, wie es nach deinem Tod verwendet werden soll. Regle deine materiellen Angelegenheiten und mache ein Testament. Vielleicht möchtest du deine weltlichen Güter und dein Haus deinen Kindern oder Nichten oder Cousins hinterlassen? Oder einer Stiftung zur Rettung von Leoparden? Oder der Krebsforschung? Versuche, bewusster zu handeln. Kaufe mit Vernunft ein. Höre auf, unnütze Dinge zu kaufen und zu horten – du brauchst nicht zu hamstern. Wenn du langfristige Investitionen planen und tätigen möchtest, tu es im vollen Bewusstsein, dass du sterben könntest, bevor sie sich auszahlen.


Schlaf-Praxis

Wenn du dich zum Schlafen hinlegst, denke dir: „Heute Nacht könnte ich sterben. Das ist vielleicht das Ende. Ich werde eventuell nie wieder aufwachen.“ Vergib denen, denen du vergeben musst. Vergiss alles, was vergessen werden sollte. Denke an etwas, das dich beruhigt und entspannt – ein fallendes Blatt oder eine quakende Ente – was auch immer. Und wünsche dir vor allem, dass du und alle anderen fühlenden Wesen alles haben und erfahren werden, was gut ist. Wenn du dich darauf konzentrieren kannst, dich mehr um andere zu sorgen als um dich selbst, wird dir das in der Tat nicht nur große Freude bereiten, sondern gleichzeitig sicherstellen, dass du selbst gut versorgt bist. Wenn du einschläfst, wird alles, was dein Körper wahrnimmt – was deine Augen sehen, was deine Nase riecht, was deine Zunge schmeckt und so weiter – durch den Schlaf in den Hintergrund treten. Wenn du dann wieder aufwachst, stell dir vor, du seist wiedergeboren worden und hättest gerade ein neues Leben begonnen. Beobachte, wie du wieder mit deinen Sinnen und den Sinnesobjekten Verbindung aufnimmst. Höre das Lied der Amsel. Rieche deinen schalen Morgenatem. Schmecke den Geschmack, den du nach der Nacht im Mund hast. Denke dir: 

Die Welt, in der ich aufgewacht bin, wird nicht ewig bestehen bleiben. 

Sieh dir deinen neuen Tisch und die ungeöffnete Schachtel mit erlesenen japanischen Schreibutensilien an. Benutze beides und schätze sie jetzt – es könnte deine letzte Chance sein.



"Einmal träumte ich, Zhuangzi, ich sei ein Schmetterling, und war so glücklich wie ein Schmetterling. Ich war mir bewusst, dass ich glücklich und zufrieden war, aber ich wusste nicht, dass ich Zhuang war. Plötzlich wachte ich auf, und da lag ich nun, und war offensichtlich Zhuang. Ich weiß nicht, ob nun Zhuang davon träumte, ein Schmetterling zu sein, oder ob der Schmetterling davon träumte, er sei Zhuang. Zwischen Zhuang und dem Schmetterling muss es einige Unterschiede geben. Dies nennt sich die Verwandlung der Dinge."

Es lohnt sich, einmal über die Reflektion des berühmten chinesischen Philosophen nachzudenken. Woher wissen wir, wenn wir einen Schmetterling betrachten, dass wir nicht selbst nur ein kleiner Teil des Traumes dieses Schmetterlings sind? Was lässt uns glauben, dass wir in diesem Augenblick „lebendig sind“? Wie können wir sicher sein, dass wir „leben“? Wir können uns nicht sicher sein. Wir können es lediglich vermuten. Denke einmal darüber nach: Wie könntest du dich vergewissern, dass du lebst und wirklich existierst? Was könntest du tun? Eine geläufige Methode, um sicherzugehen, dass wir nicht träumen, ist, uns zu kneifen. Heutzutage schneiden sich manche Menschen absichtlich ins eigene Fleisch oder schlitzen sich sogar die Pulsadern auf, um sich lebendiger zu fühlen. Andere gehen – weniger dramatisch – einkaufen, heiraten oder zetteln einen Ehekrach an. Nichts hindert dich daran, all diese Methoden auszuprobieren: Du kannst dich nach Herzenslust streiten und dir Schnittwunden zufügen und dich kneifen, doch nichts davon wird grundsätzlich beweisen, dass du lebst.
 Und dennoch fürchtest du genau wie die meisten anderen Menschen weiterhin den Tod. Der Buddha nannte dies „Fixierung“. Wir fixieren uns auf die Methoden, die wir anwenden, um uns unsere Existenz zu beweisen. Dabei ist alles, was wir unserer Meinung nach sind, sowie alles, was wir fühlen, sehen, hören, schmecken, berühren, wertschätzen, verurteilen und so weiter, lediglich eine Unterstellung oder Zuschreibung, das heißt, es beruht auf der Konditionierung durch unsere Umwelt, Kultur, Familie und unsere menschlichen Wertvorstellungen. Indem wir diese Unterstellungen und unsere Konditionierung überwinden, können wir auch unsere Angst vor dem Tod besiegen. Buddhisten beschreiben das als Befreiung von dualistischen Unterscheidungen, und es erfordert sehr wenig Mühe und kostet nichts. Du musst dich lediglich fragen: „Wie sicher bin ich mir gerade, dass ich wirklich hier bin? Wie sicher bin ich, dass ich wirklich am Leben bin?“

 Von allen Spuren ist die des Elefanten die größte.  
Von allen Meditationen der Achtsamkeit ist die über den Tod die höchste.

Manche Menschen wissen intuitiv, wenn ihr Leben zu Ende geht. Wie jung und gesund sie auch sein mögen und wie unlogisch es auch erscheinen mag, dennoch spüren sie, dass der Tod naht. Andere wissen, dass sie sterben werden, weil festgestellt wurde, dass sie an einer unheilbaren, tödlichen Krankheit leiden. Obwohl die Tatsache, dass wir bald sterben werden, die meisten von uns in Panik versetzt, deprimiert oder wir die Hoffnung verlieren, sehen spirituell Praktizierende darin ihre große Chance: Sie intensivieren ihre Dharma-Praxis und schrauben alle bedeutungslosen Aktivitäten zurück, die ihr weltliches Leben anfüllen. Ob du weißt, dass du nur noch ein paar Monate zu leben hast, oder glaubst, du hättest noch dein ganzes Leben vor dir: Der Tod ist eine Realität, der du dich früher oder später stellen musst. Und aus einer buddhistischen Perspektive gilt: Je früher du dieser Tatsache ins Auge blickst, desto besser.

Nimm Zuflucht

Wenn du dich spirituell zum Buddhismus hingezogen fühlst, ist eine äußerst wirksame und wichtige Vorbereitung auf den Tod die Zufluchtnahme zu Buddha, Dharma und Sangha – idealerweise von jetzt an bis du Erleuchtung erlangst. Manchmal fragen Menschen, ob sie unbedingt nach Indien oder in den Himalaya reisen müssen, um einen Guru zu finden und richtig Zuflucht nehmen zu können. Nein, das muss man nicht. 

Was bedeutet Zuflucht nehmen? Das Herz der Zufluchtnahme ist Vertrauen. Wir nehmen Zuflucht, indem wir uns bewusst dafür Die Buddha-Statue im Mahabodhi-Stupa in Bodhgaya, Indien entscheiden, darauf zu vertrauen, dass der Dharma die unumstößliche Wahrheit ist. Und wir entschließen uns, an die Wahrheit zu glauben, dass alle zusammengesetzten Dinge unbeständig sind, dass alle Emotionen Leiden sind und so weiter. Dann entscheiden wir uns dafür, uns der Wahrheit des Dharmas anzuvertrauen, dem Buddha (der diese Wahrheit lehrte) und dem Sangha (unseren Mitpraktizierenden, die sich ebenfalls dieser Wahrheit hingegeben haben). Sobald du dich der Wahrheit der Drei Juwelen rückhaltlos ergeben hast, hast du Zuflucht genommen. Wenn du möchtest, kannst du formell Zuflucht nehmen. An einem traditionellen Zufluchtsritual teilzunehmen, kann dein Vertrauen in deine eigenen Beweggründe zur Zufluchtnahme stärken sowie deine Wertschätzung dessen, was es bedeutet, sich von ganzem Herzen der Wahrheit zu ergeben. Wenn du das jedoch nicht willst, musst du eine solche Zeremonie nicht durchlaufen. Es ist auch nicht unbedingt notwendig, in Gegenwart eines buddhistischen Meisters, eines Mönchs oder einer Nonne Zuflucht zu nehmen: Jeder, der selbst Zuflucht genommen hat, kann dein Zeuge sein. Wenn deine Nachbarin bereits Zuflucht genommen hat, muss sie nichts anderes tun, als die Zufluchtsverse rezitieren, die du ihr dann nachsprichst. Die Anwesenheit eines Zeugen oder deines Lehrers ist nicht unbedingt notwendig, kann jedoch hilfreich sein, um deine Entschlossenheit zum Lernen und Praktizieren zu verstärken. Wenn du möchtest, kannst du sogar ganz allein Zuflucht nehmen. Du musst lediglich vor einer Statue oder einer Abbildung des Buddha eine Zufluchtsformel rezitieren. Oder stell dir einfach vor, dass sich der Buddha vor dir befindet, und nimm in Gedanken Zuflucht zu den Drei Juwelen. Das Wichtigste dabei ist, wirklich zu meinen, was du sagst, während du die Verse rezitierst.


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